News online
Home
Schweiz
Ausland
Zürich
Wirtschaft
Sport
Kultur & Medien
Vermischtes
Zeitung
Ausgabe vom 31.05.
Inserieren im Tagi
Abo-Service
Leserforum
Tools
Newsletter
SMS
Suchen/Archiv
Desktopnews
Chats
Service
Online Werbung
Tamedia-Sites
Marktplatz
Impressum
Sitemap
Der Tages-Anzeiger am Freitag, 31.5.2002
Artikel: > drucken  > mailen

«Der grosse Bruder schützt und umarmt dich»

Benützer des Internets wissen nicht, wer sie ausspioniert. Ist das Entwerfen multipler Persönlichkeiten eine Waffe gegen die totale Kontrolle?

Moderation: Philipp Löpfe

Herr Müller-Maguhn, ist die Idee einer Privatsphäre absurd geworden?

Andy Müller-Maguhn: Für seine Privatsphäre ist jeder selber verantwortlich, und er muss sich um deren Schutz kümmern, indem er mit seinen Daten und ihrer Preisgabe mit Bedacht haushaltet. Wo Daten anfallen, entstehen Begehrlichkeiten, und das oberste Prinzip muss deshalb die Datenvermeidung und nicht die regulierte Handhabe sein. Die Preisgabe meiner Daten führt dazu, dass ich anderen Macht über mich verleihe. Damit bin ich manipulierbar und verliere meine Selbstbestimmung. Aber kein Staat der Welt kann uns vor unserer eigenen Dummheit schützen.

Herr Baeriswyl, Sie bewahren uns als Datenschützer vor den Folgen unserer unüberlegten Handlungen.

Bruno Baeriswyl: Diese Definition ist zu kurz gegriffen. Meine Arbeit hat viele Aspekte. Vorerst müssen wir die Menschen grundsätzlich für den Verlust ihrer Privatsphäre sensibilisieren. Diese ist trotz gegenteiliger Behauptungen noch vorhanden. Dem Potenzial des Internets, in diese Privatsphäre einzudringen, müssen wir gesetzliche Schranken entgegensetzen. In der Diskussion um Privatsphäre im Internet muss neben einer individuellen eine zweite, staatliche Ebene betrachtet werden. Der Verlust der Privatsphäre verunmöglicht die autonome Lebensgestaltung. Genau darauf baut aber eine freiheitliche Staatsordnung und die Demokratie auf. Der Verlust des Privaten zerstört die Demokratie.

Wenn es gelingt, Herr Marti, Menschen wie jüngst eine Ratte über einen im Gehirn implantierten Chip fernzusteuern, ist dann die Selbstbestimmung des Individuums noch möglich?

Stefan Marti: Ich habe einen Hund, und der kommt immer mit mir ins Labor. Meine Kollegen schlugen vor, Experimente mit ihm zu machen und einen Sensor zu montieren. Wir haben mit dem Gedanken gespielt, eine drahtlose Kamera an sein Halsband zu hängen und ihn damit herumlaufen zu lassen. Das Projekt scheiterte am Protest der weiblichen Laborangestellten. Es ist ein sehr kleiner Hund. Ich kann das Tier nicht manipulieren, denn ich hänge sehr an ihm. Die Ethik des Tierschutzes hielt mich von missbräuchlichen Manipulationen ab. Bis man Menschen solchermassen manipuliert, müssen gewaltigere Tabus gebrochen werden. Diese Tabus werden aber in wenigen Generationen gebrochen sein. Aus meiner Perspektive bleibt uns nichts anderes, als die Zukunft zu gestalten, indem wir die Technik in den Griff bekommen. Ich habe auf meiner Homepage sehr private Dinge preisgegeben.

Totalitarismus ist eine Gefahr, die in der Informationstechnologie lauert. Sie warnen schon seit Jahren davor.

Ueli Maurer: Wir müssen in der gesamten Gesellschaft eine Diskussion mit langfristigen Perspektiven in Gang setzen. Eine Technologiefolgeabschätzung ist schwierig geworden. Die Schere zwischen Technologie und ihren Folgen öffnet sich zunehmend. Das heisst auch, dass die Verzögerung zwischen dem Auftreten von Problemen, wie beispielsweise dem Verlust der Privatsphäre, und ihrer Lösung immer grösser wird. Wir müssen eine Debatte in Gang setzen, in der jeder Bürger, jede Bürgerin erkennt, welches die Folgen der Informationstechnologie sind, und in der jeder die Lösungen mitgestaltet.

Herr Müller-Maguhn, ist es nicht naiv, vom Bürger zu verlangen, er solle sich selber um die Wahrung seiner Privatsphäre kümmern? Die meisten sind von der Technik doch völlig überfordert.

Müller-Maguhn: Was heisst denn hier naiv? Es geht nicht darum, ob das naiv ist, sondern ob die Aufgabe für den Bürger lösbar ist oder nicht. Experten sind dabei sehr viel bescheidener geworden. Wir werten es schon als positiv, wenn die Leute eine entfernte Ahnung haben, worum es geht. Trotzdem müssen wir versuchen zu verstehen, womit wir es beim Internet überhaupt zu tun haben und welche Architektur der Technik zu Grunde liegt.

In einer Stadt wie Zürich stellt der Staat den Bürgern die Trottoirs quasi gratis zur Verfügung. Auch im Internet gibt es Gratis-Trottoirs. Aber diese werden alle von Firmen finanziert. So muss man sich nicht wundern, dass sie alle in Geschäfte führen, in denen man zum Kauf von irgendwelchen Dingen angeregt wird. Neben gesellschaftlichen Interessen gibt es im Netz also auch sehr viele kommerzielle Interessen. Deshalb glaube ich, dass es sehr viele Daten gibt, die prinzipiell nicht in einen Computer gehören. Und hier muss man sich als Gesellschaft tatsächlich sehr genau überlegen, wie man das handhaben will - und zwar sofort. Wir können es uns nicht leisten, diese Debatte zu verschieben. Das gilt insbesondere im Falle des Gesundheitswesens. Sensible Informationen, die aus einem Datenleck entwichen sind, kann man nicht zurückholen. Wenn das passiert ist, ist es zu spät.

Maurer: Wir sollten versuchen, längerfristig zu denken. Tatsache ist doch, dass Menschen heute viel mehr Freiheiten haben als früher. Horrorszenarien helfen uns nicht weiter. Es geht vielmehr darum, eine Gesamtschau der Technologie, ihrer Möglichkeiten und ihrer Gefahren, zu erstellen . . .

Müller-Maguhn: . . . im Klartext heisst das: Sie wollen die «Schöne neue Welt» auch in ihren positiven Aspekten würdigen.

Herr Baeriswyl, wie viel Selbstverantwortung haben Bürger aus der Sicht des Datenschützers?

Baeriswyl: Menschen dürfen etwas anderes wollen, als ihnen die Technik vorgibt. Das finde ich ganz wichtig. Was machbar ist, ist nicht unbedingt auch wünschbar. Das ist auch in der Gentechnologie so. Niemand will den Klonmenschen. Die Frage der Machbarkeit spielt dabei gar keine Rolle.

Im Falle des Internets ist die Diskussion aber noch heikler. Der Prozess ist schleichend. Wir verlieren immer mehr Privatsphäre, ohne dass wir es merken. Und da gebe ich Herrn Müller-Maguhn Recht: Was hier passiert, kann man nicht rückgängig machen. Wenn es so weitergeht, gibt es irgendwann keine Privatsphäre mehr.

Es gibt Gesellschaften, die kennen den Begriff der Privatsphäre nicht. Vielleicht können ja auch wir ganz gut darauf verzichten. Wenn wir die Privatsphäre schon nicht verteidigen können, müssten wir sie vielleicht offensiv aufgeben. So wie Sie, Herr Marti. Auf Ihrer Website veröffentlichen Sie eine Liste aller Filme, die Sie je in Ihrem Leben gesehen haben.

Marti: Vielleicht tönt das naiv. Aber mir ist nicht wichtig, dass ich möglichst viel geheim halten kann. Viel entscheidender ist, dass ich kontrollieren kann, welche Aspekte meines Lebens an die Öffentlichkeit gelangen.

Baeriswyl: Sie haben Recht, das ist wirklich naiv. Was im Internet über Sie zu erfahren ist, können Sie unmöglich kontrollieren.

Marti: Das hängt ganz davon ab, von welchen Daten wir sprechen. Meine Kreditkartennummer kann ich vielleicht nicht geheim halten. Aber viel wichtigere Dinge, wie etwa meine politische Haltung, die kann ich sehr wohl für mich behalten - oder aber bewusst auf dem Internet veröffentlichen.

Müller-Maguhn: Es ist unmöglich, zwischen wichtigen und unwichtigen Daten zu unterscheiden. Es kommt heute schon vor, dass Arbeitgeber bei Bewerbungen Personenchecks im Internet machen. Kandidaten, die sich in ihrem Leben irgendwann im Internet politisch betätigt haben, werden dann von vornherein nicht mehr eingeladen. Sie werden nie erfahren, warum sie keine Chance gehabt haben.

Auch das mit den Kreditkarten ist viel komplexer, als Sie denken, Herr Marti. Verschiedene Anbieter sammeln fleissig Daten darüber, wer was einkauft. Daraus werden Konsumentenprofile erstellt.

Die Firmen behaupten, sie täten dies, um die Kunden vor Missbrauch zu schützen. So ganz nach dem Motto: «Der grosse Bruder schützt und umarmt dich.» Die Kehrseite der Medaille ist aber, dass etwa American Express diese Profile verkauft und sehr viel Geld damit verdient.

Marti: Was Sie sagen, ist sehr wichtig. Aber Sie gehen immer davon aus, dass wir einen physischen Körper haben und nur eine Persönlichkeit, nur ein Profil und dass das alles sehr harmonisch und homogen ist . . .

Müller-Maguhn: . . . was wollen Sie damit sagen? Sind Sie schon eine mikroprozessorgesteuerte Einheit?

Marti: Nein. Was ich sagen will, ist, dass wir in Zukunft alle ein Recht auf multiple, unterschiedliche Persönlichkeiten haben müssen. Denn wenn ich das Recht habe, real oder virtuell verschiedene Persönlichkeiten zu entwickeln, die nichts miteinander zu tun haben, kann man irgendwann nicht mehr zurückverfolgen, wer ich wirklich bin. Dann ist das Problem gelöst . . .

Müller-Maguhn: . . . das klingt ein bisschen wie die Forderung nach einem Menschenrecht auf Schizophrenie. Ich habs mehr mit der Realität.

Marti: Schauen Sie doch mal ein bisschen in die Zukunft. In zwanzig Jahren haben wir alle multiple Persönlichkeiten auf dem Web.

Müller-Maguhn: Sie belieben wohl zu scherzen. Jetzt mal ernsthaft. Ich versuche viel eher, eine einzige gesamtheitliche Person zu bleiben.

Marti: Sie sind altmodisch.

Müller-Maguhn: Das kann sein. Aber ich mags nicht so kompliziert. Ich bleibe lieber ein normal denkender Mensch.

Herr Maurer, wie viele Persönlichkeiten haben Sie?

Maurer: Mir geht es um etwas ganz anderes. Ich plädiere für mehr Technikverständnis in der Bevölkerung. Wir sind heute freier denn je. Zum Beispiel haben wir die sexuelle Revolution hinter uns. Jeder kann tun und lassen, was er will. In diesem Umfeld der Konsumgesellschaft vergessen wir vielleicht manchmal, wie wir uns von gewissen Dingen vereinnahmen lassen und dadurch unsere Intimsphäre verlieren. Aber es gibt technische Möglichkeiten, dies zu verhindern. Die Technik, die unsere Privatsphäre schützen kann, ist vorhanden. Wir müssen nur lernen, sie zu verstehen. Der Datenschutz spielt in unserer Gesellschaft eine wichtige Rolle. Aber wenn die Leute verstehen lernen, wie man sich schützt, werden sie es auch tun.

Baeriswyl: Ich betrachte die Technologie als wertneutral. Sie ist nicht grundsätzlich einfach negativ. Aber wir begehen momentan eindeutig eine Gratwanderung. Es wird generell sehr wenig über die Problematik diskutiert. Unter anderem auch, weil es bei den Medien an Kompetenz fehlt. Das ist gefährlich. Denn wir sind ganz und gar nicht in einem abwartenden Zustand.

Es passiert dauernd etwas. Es gibt immer Leute, die versuchen, das auszunutzen. Nach dem 11. September ist diese Diskussion zwischen persönlicher Freiheit und innerer Sicherheit wieder neu entflammt. Wenn man aber genau hinschaut, sind die Massnahmen, die man fordert, alle bekannt. Wir haben all das schon mal diskutiert und verworfen. Wenn wir es jetzt verpassen, das offen zu diskutieren, sind unsere Freiheiten in grosser Gefahr.

Protokoll rko./cpe.


Gesprächsteilnehmer

Ueli Maurer: Kryptologe und Professor am Institut für Theoretische Informatik der ETH Zürich.

Bruno Baeriswyl: Datenschutzbeauftragter des Kantons Zürich. Jurist, war früher tätig bei IBM Schweiz. Passionierter Computerfreak.

Andy Müller-Maguhn: Hacker beim Chaos-Computer-Club und Direktoriumsmitglied der ICANN, jener Behörde, welche die Domain-Namen verwaltet.

Stefan Marti: Diplomierter Psychologe. Erforscht am Massachusetts Institute of Technology als Ingenieur und Erfinder zukünftige Kommunikationstechnologien und Roboter. (rko)


Artikel: > drucken  > mailen

© Tamedia AG - Quellen: tagesanzeiger.ch - Agenturen - E-Mail an Webmistress

 

 

 
ZEITUNGSRESSORTS
Frontseite
Sport
Wirtschaft
Inland
Ausland
Hintergrund
Kehrseite
Zürich
Winterthur
Region
Kultur
Leserforum
Wissen
Computer
Auto
Technik
Savoir-vivre